Mein Bruder Geld

Leila musste dann nach Hause und einer der anderen Männer schloss mich – angeblich zu meiner eigenen Sicherheit – ein. Ich schaute ein wenig fern, ohne wirklich etwas mitzubekommen. Es dauerte nicht lange und der zweite Mann tauchte mit einem Notebook auf. Er stellte sich als Bernd vor und kannte sich ziemlich gut mit Computern aus. Das war doch schon was, so konnte ich mich wenigstens auf dem Laufenden halten. Ich surfte ein wenig herum, informierte mich über andere Entführungsfälle, vor allem interessierte mich, warum sie gescheitert waren. Meistens lag es natürlich daran, dass die Täter ihre Spuren nicht gut genug verwischen konnten. Telefonnummern oder DNS-Partikel am Übergabeort ließen schnell Rückschlüsse auf den Täter zu. Nun, mit Alex hatte es ja schon gut begonnen, in dem er ein Auto benutzte, das bereits bei einem Banküberfall eingesetzt wurde. Ich glaubte, er brauchte unbedingt meine Hilfe. Dann kümmerte ich mich um die Firma des Gläubigers, ich konnte das Passwort knacken und machte mich dann ein wenig kundig. Es war schon interessant, was ich da herausfand.

Alex hatte eine bahnbrechende Erfindung gemacht, deren Entwicklung ihn allerdings sehr viel Geld gekostet hatte und als er wegen Vaters Eingriff nicht mehr zahlen konnte, hatte der Gläubiger, ein Mann namens Heisberg, kurzerhand die Erfindung und alles, was damit zusammenhängt pfänden lassen. Was war das bloß für eine Erfindung? Auch das fand ich heraus. Es handelte sich um ein Gerät, das Diabetikern ermöglichte, ihren Blutzucker ohne Blutentnahme zu bestimmen. Aha – deswegen war Leila so interessiert an der Sache. Das wäre für die Kranken eine echte Revolution, denn sie müssen sich normalerweise 5-6 Mal am Tag in die Fingerkuppen stechen, um ihre Blutwerte zu bestimmen.
Die Erfindung stand wohl kurz vor der Marktreife, aber der entscheidende letzte Schritt fehlte wohl noch und ohne den Prototyp des Gerätes ging es eben nicht weiter. Während ich surfte, hatte ich gar nicht gemerkt, dass jemand in den Raum gekommen war. Es war Alex.
„Du hast es also herausgefunden?“, sagte er.
Ich nickte.
„Das macht nichts, ich habe damit gerechnet und hätte es dir ohnehin erzählt. Das Problem besteht darin, dass es noch viel zu groß ist, um es vermarkten zu können.“
Ich dachte an Handys, da war es genauso. Mein Vater hatte mir erzählt, dass die ersten Funktelefone groß wie Handtaschen und richtig schwer waren. Und vorher hatte es überhaupt keine mobilen Geräte gegeben – unvorstellbar! Wie hatte man so leben können?

Ich fragte Alex, wie er dazu gekommen war, so ein Gerät zu erfinden. Nachdem er aus Vaters Firma ausgestiegen war, wollte er etwas ganz anderes machen und studierte zunächst Medizin, ihm wurde aber schnell klar, dass er kein Arzt werden wollte und als dann die kleine Tochter seines besten Freundes, nämlich Leila, an Diabetes erkrankte, wusste er plötzlich, was er wollte und gründete eine Firma, die medizinische Geräte entwickelte und herstellte. Sein Freund Marc steuerte das technische und er das medizinische Wissen bei. Alex erklärte mir noch, dass sie höchstens noch drei Monate und natürlich das nötige Geld benötigt hätten.
„Gut, ich habe ja gesagt, dass ich dir helfen will. Aber jetzt brauchen wir einen Plan, um Vater auszutricksen“, sagte ich.
„Auszutricksen?“
„Meinst du, er lässt sich ohne weiteres erpressen? Das würde sein Stolz nicht erlauben. Wahrscheinlich hat er jedoch schon jede Menge Privatdetektive auf dich angesetzt. Bist du eigentlich von jemandem verfolgt worden?“
„Keine Ahnung, aber ich glaube nicht.“
„Gut, du darfst auf keinen Fall in deiner Wohnung übernachten.“
„Aber …“
„Du kannst doch hier schlafen. Das mit dem Auto war wirklich blöd. Jetzt hat er deine Spur. Wir müssen dir ein Alibi verschaffen.“
„Wie …?“
„Wo warst du zur Tatzeit?“
„Zuhause, Bernd hat das Auto gefahren.“
„Bernd?“
„Er hat dir vorhin den Computer gebracht.“
„Nein, du warst nicht zuhause, du warst auf einer Fortbildungsveranstaltung.“
„Hmm?“
Ich klickte ein paar Mal auf die Tastatur und schon hatte ich die Veranstaltungen des Tages in der Stadt auf dem Schirm. „Ja das ist gut. Eine Informationsveranstaltung im Technologiezentrum. Warte, ich schau mal, ob ich an die Teilnehmerliste komme. Ja, hier ist sie. Ich setze dich auf die Liste und hier: die Themen der Tagung. Merk sie dir. Mist, wir haben keinen Drucker.“
„Macht nichts, ich schreib sie mir auf.“
Stimmt, das altertümliche Schreiben mit Stiften gab es ja auch noch.

Diese Nacht schliefen Alex und ich also im selben Raum. Wir sprachen nicht über die Entführung, sondern über die ersten Jahre meiner Kindheit, die Alex noch miterlebt hatte. Als er die Anekdoten aus dem Leben eines Zwei – bis Dreijährigen erzählte, brach er des Öfteren in schallendes Gelächter aus. Ich dagegen schämte mich mitunter ziemlich. Aber ich wollte ihm das Vergnügen nicht nehmen, denn ich hatte ihn noch nie – immerhin kannte ich ihn schon einen halben Tag – so gelöst erlebt. Das Gespräch endete damit, dass wir uns in die Arme nahmen und uns gegenseitig viel Erfolg wünschten.
Während ich langsam eindöste, kam mir immer wieder in den Sinn, dass ich jetzt einen Bruder hatte. Und ich mochte ihn.

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