Aber nicht gleich aufessen!

Der Schriftsteller Zwill hat eine Schreibblockade und geht in eine Bar, die er schon lange nicht mehr besucht hat. Dort sieht er eine Frau, die verblüffend der Vorstellung seiner Protagonistin ähnelt. Zufällig trifft er sie am nächsten Tag wieder und er verliebt sich in sie. Er ist hin- und her gerissen, ob er sich ihr als Autor oder als Mann nähern soll. 

 

Das Telefon klingelte seit Tagen unaufhörlich und jeder, der ihn mehr oder weniger kannte, gratulierte zum Erfolg seines neuen Buches. Schließlich nahm er gar nicht mehr ab, löschte ab und zu den Anrufbeantworter, aber der heiß ersehnte Anruf blieb aus. Dabei hätte er dafür auf alle Glückwünsche verzichten können.  

Er stand auf, betrachtete seine ersten Zeilen am Monitor aus der Ferne und genehmigte sich einen kräftigen Schluck Rotwein und eine Zigarette. Sein Blick schweifte im Raum umher, ohne wirklich zu sehen. Denn davor war sein Gedankenkarussell, auf dem sich ein ganzer Personenreigen samt dazugehörigen biographischen Verwerfungen, Brüchen und Verästelungen drehte. Was sollte er mit dem bärtigen Alten anfangen? Der hatte sich wohl nur stur aus einer anderen Geschichte hierhin verirrt. So kickte er eine Figur nach der anderen vom Karussell.

Das Telefon klingelte und da das im Gegensatz zu seiner Romanhandlung selten geschah, nahm er ab.
„Zwill!“
„Vanessa. Wie geht es dir?“
„Vanessa! Ich habe lange nichts mehr von dir gehört.“
„Soll das ein Vorwurf sein?“
„Nein, überhaupt nicht. Ich freue mich.“
„Was machst du denn gerade?“
„Ich arbeite.“
„Hast du einen Augenblick Zeit?“
„Seit wann bist du so umständlich?“
„Weil ich sicher sein will, dass du ernsthaft zuhörst.“
„Warum stellst du das in Frage?“
„Geht das schon wieder los?“
„Was denn?“
„Dass wir jeden Atemzug diskutieren müssen.“
„Schon gut, was kann ich für dich tun?“
„Das sagte ich bereits – zuhören. Denn normalerweise schaltest du nach einigen Minuten innerlich ab und erzählst dann zusammenhanglos von irgendwelchen neuen Ideen für eine Geschichte. Ich möchte aber, dass du dich einen Augenblick für die Wirklichkeit interessierst.“
„Einen Augenblick – einverstanden.“
„Sehr witzig. Kannst du nicht mal ernst sein?“
„Immer!“

Schweigen. Sie hatte wohl aufgelegt. Entschlossen setzte er sich an den PC und versuchte, den Faden wieder aufzunehmen. Aber Vanessa hatte es geschafft, seinen Gedankenkreis zu unterbrechen. Verhielt er sich wirklich so oder lag es einfach an der verschiedenen, vielleicht geschlechtsspezifischen Wahrnehmung? Natürlich wurde er ungeduldig, wenn sie über eine Sache lamentierte, ohne zum Punkt zu kommen oder lange ausholte. Aber er bot ihr auch Lösungsvorschläge an – die sie jedoch erst zu erörtern bereit war, wenn sie lange genug Dampf abgelassen hatte.
Wie man das lösen könnte, war ihm ein Rätsel.
Es gab eine Zeit, da hatten ihn ihre Unterschiede geradezu herausgefordert, gar fasziniert. Aber seit einigen Monaten war es anders, was ihm vorher eine Aufgabe war, störte ihn jetzt und er begann Finger in ihre Wunden zu legen, was natürlich ihre Differenzen noch verstärkte. Oft hasste er sich dann für seine unvermeidliche Arroganz, aber bisher hatte sie es ihm immer wieder nachgesehen. Bis er vor drei Wochen, nach einem Verlegergespräch deprimiert, wirklich unverschämt zu ihr gewesen war. Es war seitdem ihr erster Anruf. Ausgerechnet jetzt, als er endlich seine Schreibhemmung überwunden hatte. Inzwischen quietschte und eierte sein vor kurzem noch kreatives Personenkarussel wie eine verrostete, aus der Zeit gekommene Jahrmarktsattraktion.

Erneut klingelte das Telefon.
„Ja?“
„Warum hast du aufgelegt?“, fragte sie.
„Ich dachte du hättest aufgelegt, es war plötzlich so still.“
„Ich habe daran gedacht, aber ich habe gemerkt, dass ich mich von dir nicht mehr verletzen lasse. Ich habe nicht aufgelegt.“
Er hinterfragte nicht, wieso sie jetzt weniger verletzlich war, wollte es nur schnell hinter sich bringen. „Was wolltest du mir eigentlich erzählen? Ich muss ohnehin eine Pause machen, entschuldige, wenn ich vorhin nicht ganz bei der Sache war.“
„Ah, der Herr legt eine Pause ein!“
„Vanessa, ich habe mich entschuldigt und meine es ernst.“
„Gut, es dauert auch nicht allzu lange. Also: Ich habe ein Angebot bekommen, im Osten zu arbeiten, in Leipzig.“
„Das klingt spannend.“
„Spannend?“

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