Mein Bruder Geld

Ich verstand, ehrlich gesagt immer weniger, folgte ihr aber wie ein treuer Hund. Als sie sah, dass Sven und Dirk uns beobachteten, blieb sie stehen und gab mir einen Kuss! Die Jungen verzogen ihr Gesicht. Den küsst sie? Leila nahm mich dann an die Hand und zog mich mit sich.
Unterwegs ließ sie meine Hand wieder los, schaute sich aber mehrfach um und lächelte mir dann aufmunternd zu.
Wir kamen zu einer Art Lagerhalle, ich hätte eher erwartet, dass wir ein Eis essen gehen oder sie mit mir durch den Park streifen würde. Sie klopfte in einem bestimmten Takt an eine Tür, die dann von einem jungen Mann geöffnet wurde. Der junge Mann steckte vorsichtig seinen Kopf heraus und lugte um die Ecke.
„Ist euch auch niemand gefolgt?“, fragte er.
„Nein, ich bin mir ganz sicher“, antwortete Leila.
Wir gingen hinein und der junge Mann deutete auf ein paar Kisten, auf die wir uns setzen sollten. Mir fiel auf, dass im Hintergrund zwei weitere Männer an einem PC saßen und sich unterhielten.
„Hallo Oliver!“, sagte der junge Mann. „Ich bin Alex, dein Halbbruder.“
„Sie, äh du bist …?“ Ich starrte auf Leila, die mich wieder anlächelte, aber nichts sagte, nichts erklärte.
„Es tut mir leid, dass wir uns so kennen lernen, bzw. wieder- sehen.“
„Wiedersehen?“, fragte ich.
„Na ja, ich habe dich zum letzten Mal als Dreijährigen gesehen. Dann musste ich weg, Bruderherz.“
„Das hat Mutter mir vorhin auch gesagt. Warum musstest du weg?“
„Das ist eine lange Geschichte, die ich dir gleich erzählen werde. Vorher eine Frage. Liebst du deinen Vater?“
„Natürlich“, antwortete ich prompt. „Jedes Kind liebt doch seinen Vater.“
„Ja, vielleicht ist das in den meisten Fällen so.“
„Aber er ist doch auch dein Vater.“
„Ja, das stimmt, nur wir hatten Probleme. Keine einfachen Probleme.“ Er zauderte und mir wurde es mulmig, denn mir fiel ein, dass Vater etwas von einer möglichen Entführung gesagt hatte.
„Warum bin ich eigentlich hier? Ich dachte …“
„Du musst keine Angst haben, ich brauche deine Hilfe. Aber, wenn du nicht willst, ist es auch in Ordnung. Soll ich dir jetzt erzählen, um was es geht?“
„Natürlich!“

Es folgte eine merkwürdige Geschichte, die von Geld, Betrug und Erpressung handelte. Als Alex 18 Jahre alt war, begann mein Vater damit, ihn in die Firmengeheimnisse einzuweihen. Die bestanden schlicht darin, dass mein Vater insolvente Firmen für wenig Geld aufkaufte, die Bilanzen frisierte, um sie dann gegen ein Vielfaches wieder zu verkaufen. Er verdiente dabei ziemlich viel, auf der Strecke blieben dann die ehemaligen Firmenbesitzer und meist auch die Käufer, jedenfalls, wenn sie den Betrug nicht rechtzeitig bemerkten. Ich hatte bis jetzt nur gewusst, dass mein Vater viele Geschäfte machte und er hatte nur ansatzweise davon erzählt. Ich erinnere mich noch, wie er einmal erklärte, dass man nicht nur Kleider oder Computer kaufen und verkaufen könne, sondern auch Firmen. Das wusste ich auch aus den Wirtschaftsnachrichten. Da ich ja auch einige eigene Aktien besaß, interessierte ich mich dafür. Als Alex dann in der Firma unseres Vaters arbeitete, hatte es wohl einen schweren Streit zwischen Alex und Vater gegeben und daraufhin hatte Alex die Firma und die Familie verlassen. Er gründete dann eine eigene Firma, die bis vor kurzem auch erfolgreich war und schließlich wurde auch er Opfer von Vaters Geschäftspraktiken. Er war einfach zufällig in das Räderwerk von Vaters Vernichtungs-Maschinerie geraten. Und jetzt hatte er ein Problem mit einem seiner Gläubiger, der auf keinen Fall auf sein Geld verzichten wollte. Alex fügte noch an, dass Vater wohl gar nicht gewusst habe, wen es diesmal getroffen habe. Sie wären sich gar nicht begegnet.

Ich wusste zwar, dass mein Vater ein harter Geschäftsmann war, so wie er auch als Vater ziemlich streng war, aber dass er derart skrupellos war, überraschte mich doch und ich war auch enttäuscht, denn trotz allem war er für mich in gewisser Weise ein Vorbild. Allerdings war ich ihm nicht wirklich ähnlich, vielleicht hatte ich seine Intelligenz geerbt, aber nicht seine Härte und seinen unbedingten Ehrgeiz. Es war für ihn z.B. sehr enttäuschend, wie wenig Sport für mich bedeutete. Ich brauchte einige Zeit, um das alles zu verdauen. Alex ließ sie mir. Dann fragte ich ihn, was Leila und ich damit zu tun hätten.
„Nun, Leila ist die Tochter meines besten Freundes und sie sollte dich herlocken.“ Prima, sie war also nur ein Lockvogel.
„Ich hätte dich schlecht anrufen können, um es dir zu erklären.“
„Warum hast du mich nicht entführt?“, fragte ich.
„Das habe ich doch“, erklärte er zu meiner Verwunderung. „Nur eben nicht mit Gewalt.“
„Wie nett von dir!“
„Du verstehst es nicht, du kannst jederzeit gehen, wen du willst, aber ich möchte dich bitten zu bleiben, damit unser Vater das Lösegeld bezahlt. Es ist schließlich seine Schuld.“
Ich sprang auf. „Wirklich nett! Mal so eben entführt zu werden. Was war denn das mit dem Bankraub?“
„Welcher Bankraub?“
„Das Kennzeichen des Autos, mit dem Vaters Wagen gerammt wurde, spielte bei einem Bankraub eine Rolle und deine Fingerabdrücke wurden in der Bank gefunden.“
„Versuchter Bankraub“, korrigierte er. „Wir haben es versucht, aber dann hat eine alte Frau einen Herzanfall bekommen und ich habe es abgebrochen.“
„Und die Fingerabdrücke? Wie kann man so dumm sein?“
„Ich habe versucht, der Frau zu helfen und dabei wahrscheinlich ihre Brille oder ihre Tasche berührt.“

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