Mein Bruder Geld

Leila trainierte mit Bruno, damit er den Modellhubschrauber steuern konnte, außerdem wollten sie feststellen, wie viel der Hubschrauber tragen konnte. Ich überprüfte die Strecke, die von meinem Elternhaus zum Übergabeort führte und fand auch rasch eine geeignete Stelle. Sie mussten an einem Fluss vorbei und konnten so dem Hubschrauber nicht schnell folgen, wenn er die Tasche übernahm. Dann entwickelte ich die Logistik und legte fest, wer wo zu sein hatte, damit wir keine Überraschungen erlebten. Wir hatten vor, während der Fahrt, die Hannes übernehmen sollte, ihn anzurufen und ihn auf einen Parkplatz am Fluss zu dirigieren. Ich fragte mich, ob er den Anweisungen folgen würde, wenn er nicht mich als Gegenleistung hätte. Daher wollte ich mich auf alle Fälle bereithalten. Zum Schluss blieb noch die Frage offen, wie schwer 2 Millionen Euro in 100 Euro – Scheinen eigentlich waren. Es wäre schon ziemlich schade um das Geld, wenn es z.B. im Fluss versinken würde. Aber wie kamen wir jetzt an 10 oder besser mehr 100 – Euro-Scheine? Es waren schließlich 20000 Scheine, – 500€ Scheine hatten wir abgelehnt – die der Hubschrauber transportieren musste. Eine genaue Waage hatte Leila zuhause, da sie oft irgendwelche Lebensmittel abwiegen musste. Uns fiel niemand ein, der uns mal kurz so viel Geld ausleihen würde. Wäre es nicht Wochenende, hätten wir die Schulsekretärin fragen können – sie war es schon gewohnt, dass wir mit den ungewöhnlichsten Anfragen an sie herantraten und sie hätte uns bestimmt Geld aus dem Schultresor wiegen lassen. Dann fiel mir ein, dass ich ja von meinem Konto Geld aus dem Geldautomaten ziehen konnte. Keine gute Idee, wenn das einer macht, der entführt wurde. Schließlich wollte Leila aus normalem Papier 100 geldscheingroße Stücke schneiden und sie abwiegen. Das war eine gute Idee und sie machte es. Das Ergebnis fiel allerdings schlecht aus. Wir hätten auf 500 000 Euro verzichten müssen. Ich war schon kurz davor zu sagen, wir riskieren es einfach, weil Geldscheine erheblich leichter als normales Papier waren, als sie mich anrief, um mitzuteilen, dass sie eine Lösung gefunden hätte. „Vergiss den Hubschrauber“, sagte sie. „Wir nehmen ein Motorboot, dann haben wir keine Gewichtsprobleme mehr.“
Der Fluss, na klar! „Und woher?“, fragte ich.
„Ein Freund meines Bruders hat eins.“
„Und das kriegen wir?“
„Bestimmt!“
„Aber, wenn die Polizei doch eingeschaltet wurde? Das ist doch nicht Dagobert-like.“
„Ist doch egal.“
Ich wollte partout nicht auf den Hubschrauber verzichten und dann wusste ich, wie wir es machen sollten. Jetzt mussten wir unsere Truppe zumindest teilweise einweihen, damit ich ihnen gegenüber mein Inkognito aufgeben konnte. Und sie fanden es richtig toll, was wir uns ausgedacht hatten.

Alex hatte die Übergabe für 19 Uhr auf einem alten Industriegelände vereinbart. Um diese Jahreszeit war es dann schon dunkel. Das war für den Einsatz der Hubschrauber zwar nicht förderlich, aber ich wusste, dass Bruno als Hobbyornithologe über ein Nachtsichtgerät verfügte. Markus war mächtig stolz darauf, dass er das Motorboot steuern durfte. Natürlich musste er diesmal eine Maske aufziehen, damit er auf keinen Fall erkannt werden konnte. Wir wählten Markus, weil er am besten von allen seine Stimme verstellen konnte. Er konnte sogar sehr gut Stimmen imitieren. Auf dem Boot war noch Sven, ebenfalls mit Maske, dabei. Gegen 18.30 erhielten wir die Nachricht, dass ein schwarzer BMW vor meinem Elternhaus hielt. Am Steuer saß einer der Detektive. Ein anderer hatte sich schon zum alten Industriegebiet begeben, er war nicht alleine. Eine ganze Mannschaft hatte sich dort postiert, um womöglich Alex und seine Leute zu stellen. Der BMW wurde mit einer großen Tasche beladen. Mein Vater stieg mit ein und sie fuhren gegen 18.40 Uhr los. Um diese Zeit waren Markus, Sven und ich schön längst im Boot, ein eiskalter Wind wehte uns um die Ohren, als wir losfuhren. Dann gab Markus mit verstellter Stimme meinem Vater durch, dass sich der Übergabeort geändert hatte. Sie sollten sich zu einer bestimmten Stelle am Fluss begeben. Von unseren Leuten am Industriegebiet erfuhren wir, dass sich die dort versammelten Männer auch ratzfatz auf den Weg machten.

Vom Boot aus konnten wir schon von weitem erkennen, dass der BMW mit eingeschalteten Scheinwerfern am Ufer wartete. Vater, Hannes und der Detektiv standen daneben. Wir hielten das Boot einige Meter vor der Uferböschung an und warfen zwei Taschen hinüber. Markus gab ihnen die Anweisung, das Geld auf die Taschen zu verteilen, was sie auch taten. Jetzt kam der Hubschrauber zum Einsatz, denn wenn wir ans Ufer gefahren wären, hätten Vater und der Detektiv uns mühelos überwältigen können. Also dirigierten Leila und Bruno den Hubschrauber zum BMW und flogen die beiden Taschen nacheinander ins Boot. Dann stieg ich in ein angehängtes Ruderboot um und ruderte gemächlich ans Ufer. Mein Vater schloss mich in die Arme und ich drückte mir ein paar Tränen ab, damit alles echt wirkte. Plötzlich hörte man auf beiden Seiten des Flusses quietschende Reifen. Markus erkannte das Problem und gab im Motorboot Vollgas. Gleichzeitig ließen Leila und Bruno den Hubschrauber wieder aufsteigen, der dann dem Boot folgte. Hektisch befestigte Sven eine der Geldtaschen am Hubschrauber. Als er wieder aufstieg, wurde auf ihn geschossen, aber er wurde nicht getroffen. Ich fragte mich, wie weit die Fernbedienung noch Wirkung hatte, ging aber davon aus, dass Leila das wusste.
Eine Zeit lang flog der Hubschrauber über dem Boot, aber plötzlich drehte er ab. Die Männer hatten das Schießen längst aufgegeben, weil er schon zu weit weg war. Der Hubschrauber landete irgendwo auf dem linken Ufer, das Boot fuhr noch weiter.
Da ich ja keine Telefonverbindung mehr hatte, wusste ich nicht, ob das alles noch geplant war oder eine Verzweiflungstat darstellte.

Die Autoscheinwerfer entfernten sich hektisch, offenbar wollte man den Hubschrauber und das Boot finden. Konnten meine Freunde den Verfolgern entfliehen? Es dauerte lange, zu lange, bis ich darauf eine Antwort bekam. Denn ich wurde zunächst befragt. Der Detektiv stellte die Fragen und ich rechne es meinem Vater hoch an, dass er den ziemlich unwirschen Mann schließlich bremste. Natürlich wollten sie wissen, was ich über die Entführer wusste, ob es mein Bruder Alex war und ob ich wusste, wo ich gefangen halten wurde. Aber leider konnte ich keine Aussagen machen, da die Entführer, wenn ich sie sah, immer Masken trugen. Wo ich gewesen war, wusste ich auch nicht, da man mir auf dem Weg dahin die Augen verbunden hatte.
„Sie hören doch, er kann uns nicht weiterhelfen“, beendete mein Vater das Verhör. „Ich bringe ihn jetzt nach Hause und sie helfen ihren Kollegen, das Geld zu finden.“

Auf der Heimfahrt lernte ich eine andere Seite meines Vaters kennen, er konnte sogar besorgt und fürsorglich sein. Aber ich stotterte nur, dass es mir gut ging und ich unbedingt nach Hause wollte. Natürlich wäre ich jetzt lieber bei unserem Schlussspurt dabei gewesen. Man kann nicht alles haben. Ich fieberte jetzt meinem PC entgegen, um doch etwas mitzukriegen. Allerdings musste ich vorher noch die Umarmungen und Tröstungen meiner Mutter über mich ergehen lassen. Die hätte mich liebend gerne noch länger umhegt, aber sie akzeptierte dann doch, dass ich sehr erschöpft war und unbedingt meine Ruhe brauchte.

Per SMS und PC nahm ich Kontakt zu Leila auf, mein Handy konnte ich leider noch nicht wieder benutzen. Ich erfuhr, dass sie vorausschauend Sven und Said an einer Anlegestelle postiert hatte und sie den Hubschrauber auf einen Sportplatz dirigiert hatten. Sie konnte nicht lange antworten, weil ihnen die Detektive auf den Fersen waren. Wie ich später erfuhr, waren sie sogar vor Leila und Bruno am Sportplatz und hatten den Hubschrauber entdeckt. Als die Männer auf ihn zugingen, schaffte es Bruno im letzten Moment den Hubschrauber wieder zu starten und mitsamt der Geldtasche über ein Gebäude zu fliegen. Said und Salina übernahmen die Tasche und rasten auf ihren Bikes davon. Es dauerte nicht lange und ein dunkler Wagen verfolgte sie. Sie bogen ab und übergaben hinter einer Kirche Leila und Bruno die Tasche, um dann wieder auf der Strasse weiterzufahren. Die Leute im BMW entdeckten sie wieder und verfolgten sie weiter. Dann kam Brunos Meisterstück. Er ließ den Hubschrauber erneut aufsteigen und den Wagen verfolgen. Über dem Wagen machte er eine Kehre und setzte sich genau vor die Windschutzscheibe, so dass der Fahrer nichts mehr sehen konnte. Der Beifahrer öffnete dann das Fenster und schoss mit einer Pistole auf den Hubschrauber, der daraufhin explodierte. Geblendet machte der Fahrer zwar eine Vollbremsung, dennoch landete der Wagen an der Mauer eines Vorgartens.

An der Anlegestelle stürmten Sven und Markus aus dem Boot und rasten mit ihren Skates davon. Sie hörten noch wie ein Wagen mit quietschenden Reifen an der Anlegestelle hielt, blickten sich um und sahen, dass zwei Männer mit ihren Waffen auf das leere Boot zielten. Wir hatten das Geld!

Vaters Detektive konnten natürlich bestätigen, dass Alex und seine Mannen zwar die ursprüngliche Übergabe organisiert, aber das Geld nicht erhalten hatten. Wahrscheinlich ließen sie Alex erst einmal in Ruhe. Aber, was sollten wir Alex sagen? Es war klar, dass er ziemlich angefressen war. Wir verhielten uns mehrere Tage absolut unauffällig, mein Vater schrieb mir eine Entschuldigung und ich sah Leila nicht. Letzteres war für mich das Schlimmste. Aber hatte ich wirklich eine Chance bei ihr? Dann endlich traf ich Leila wieder. Sie erzählte mir, dass Alex mit Hilfe des Geldes und des Prototyps die Forschung wieder aufgenommen hatte. Heisberg wurde ausbezahlt und verzichtete aufgrund der Ereignisse auf weitere Forderungen. Dann kam, was kommen musste: Am Ende unseres Gesprächs hatte Leila es plötzlich sehr eilig. Ich blickte ihr nach und sah, dass sie bei einem jungen Mann auf dessen Motorrad stieg. Sie winkte mir noch einmal zu.
Traurig schlürfte ich Richtung Haltestelle. In der Bahn saß Jennifer und strahlte mich an.

Pages: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12