Mein Bruder Geld

Immerhin wurde mir jetzt klar, dass mein Bruder – Halbbruder – wirklich nicht das Zeug zum Kriminellen hatte und ich erklärte mich zur Entführung bereit, bzw. bereit, entführt zu werden. Aber ich stellte noch eine Bedingung: Leila sollte sich um mich kümmern.
„Na ja, ich muss zur Schule und …“, gab sie zu bedenken.
„Nach der Schule reicht schon“, antwortete ich.
„Na gut“, sagte sie.
„Dann habe ich noch eine letzte Frage: Wie hoch ist das Lösegeld?“
„Zwei.“
„Zwei was?“
„Millionen Euro“
„Gut, das lohnt sich wenigstens.“

Dann klärten wir alles ab. Ich brauchte schließlich einen PC, eine Playstation und irgendwie auch Hinweise auf die verpassten Hausaufgaben. Alex sicherte mir alles zu. Wie er das mit den Hausaufgaben hinkriegen wollte, blieb mir zunächst ein Rätsel.

Nachdem ich mich in meinem Versteck einigermaßen eingerichtet hatte, – es gab einen Fernseher und einige Bücher – verabschiedete sich Alex, um das zu tun, was ein Erpresser eben so tun muss. Leila blieb noch. Etwas schien sie zu bedrücken. Ein Mann spürt so was.
„Das alles scheint dir gar nichts auszumachen“, sagte sie.
„Doch schon, aber haben wir eine Wahl?“
„Ich weiß nicht, meinst du denn, das klappt wirklich so, wie Alex sich das ausgedacht hat?“
„Warum nicht?“
„Und wenn die Polizei ihn erwischt?“
„Dann war es eben keine Entführung, ich bin schließlich freiwillig hier.“
Ihr Blick schweifte unruhig hin und her. „Eigentlich ist doch dieser Gläubiger an allem Schuld.“
„Ich würde eher sagen mein Vater.“
„Ja schon, aber er hat doch gar nicht gewusst, dass es Alex’ Firma war.“
„Spielt das eine Rolle? Was er mit den Firmen macht ist mies, obermies.“
„Du lebst seit dreizehn Jahren mit deinem Vater zusammen und kennst Alex erst eine halbe Stunde und ihm glaubst du mehr?“
„Das sagt die Komplizin des Entführers?“
„Ich bin nicht seine Komplizin, ich habe da nur getan, weil … Ja du hast recht, ich bin quasi seine Komplizin. Aber deswegen möchte ich ja, dass wir eine andere Lösung finden.“
„Und welche?“
„Vielleicht können wir diesen Gläubiger irgendwie …“
„’Irgendwie’ ist genau das richtige Wort. Was sollen wir denn tun?“
„Alex davon abhalten, eine Dummheit zu begehen.“
„Ach wo, ich denke mein Vater hat genug Kohle. Wenn das Alex hilft, soll es mir recht sein.“
Sie schaute mich mit funkelnden Augen an. Das machte mir mehr aus, als alles andere. „Du bist schon ein Supertyp!“ Schwupp, bekam ich schon wieder einen Kuss, aber nur einen ganz kurzen.

Dieses Mädchen gefiel mir immer mehr, sie wollte etwas unternehmen und außerdem hatte sie mich schon mehrfach geküsst. Aber was sollten wir tun?
Leila schien auch angestrengt nachzudenken, so sehr, dass sie schon schwitzte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sogleich tauchten neue Schweißperlen auf. Da stimmte was nicht. Sie stand auf, ging schwankend zum Tisch, griff nach ihrer Handtasche und fischte einige Plättchen Traubenzucker heraus, nervös nestelte sie die Plastikfolie auf und schluckte den Traubenzucker. Beim nächsten Plättchen half ich ihr, da ihre Hände inzwischen stark zitterten. Sie aß vier Stück und wurde langsam ruhiger. Ich fragte, was los sei.
„Nichts. Ich bin Diabetikerin, es ist nur eine Unterzuckerung.“ Sie griff wieder in die Handtasche und holte eine kleine Tasche hervor. Daraus entnahm sie eine Art Stift und aus einem Döschen einen kleinen Streifen, den sie in ein kleines Gerät steckte. Sie lächelte schon wieder. „Wenn du kein Blut sehen kannst, schau weg.“

Ich war ziemlich irritiert, schaute aber nicht weg, sondern gebannt hin. Sie setzte diesen Stift an eine Fingerkuppe und drückte auf einen Knopf am Stift. Daraufhin erschien auf ihrem Finger ein winziger Blutstropfen, den sie dann an den Streifen hielt. Auf dem Display des Gerätes erschienen nacheinander die Zahlen 5,4,3,2,1 – 90mg.
„Ich vertue mich immer mit diesem verdammten Pudding. Ich denke da ist viel Zucker drin und ich spritze dann zuviel.“
„Du spritzt?“
„Ja, verdammt! Insulin.“
„Verstehe.“
„Und wenn man zuviel spritzt, weil man das Essen falsch eingeschätzt hat, kann man unterzuckern.“
„Was heißt falsch eingeschätzt?“, fragte ich und überlegte, wie ich Essen einschätzen würde.
„Es geht um die Kohlenhydrate im Essen. Ein Brötchen hat z.B. 50gr Kohlenhydrate. Dafür muss ein Diabetiker dann eine bestimmte Menge Insulin spritzen, damit der Körper die Kohlenhydrate verarbeiten kann. Bei Brötchen ist das einfach, aber bei anderen Speisen, weiß man es oft nicht genau und muss schätzen. Dabei kann man sich schon einmal vertun. So das war mein Schnellkurs zum Thema Diabetes. Noch Fragen?“
Die hatte ich zwar schon, aber ich merkte auch, dass es ihr nicht angenehm war, über das Thema zu reden, was ich auch verstehen konnte. Also verneinte ich.

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