Und sie erklärte es mir. Alex war der Sohn meines Vaters aus seiner ersten Ehe. Meine Mutter hatte ihn wie ihr eigenes Kind behandelt und dann sei es zu einem schlimmen Streit zwischen Vater und Alex gekommen. Ich fragte mehrfach nach, um was es bei dem Streit gegangen sei. Aber entweder wollte oder konnte sie es mir nicht sagen. In letzter Zeit habe Alex versucht, Kontakt zu Vater aufzunehmen, aber der habe es strikt abgelehnt. Mutter nahm meine rechte Hand zwischen ihre Hände und gerade in dem Moment signalisierte mein PC eine neue E-Mail. Wie konnte ich jetzt meiner Mutter entkommen? Was immer funktionierte, war zu sagen, es wäre etwas Wichtiges für die Schule, dann schlich immer ein stolzer Ausdruck in ihr Gesicht, der besagte, was für einen wunderbaren fleißigen Sohn sie doch hatte. Diesmal funktionierte es nicht ganz so einfach. Die Schule zählte diesmal als Argument nicht. Eine andere Taktik kam mir in den Sinn und ich erklärte, dass ich das Gehörte erst mal verarbeiten müsste. Schließlich bekommt man nicht jeden Tag einen neuen, bzw. alten Bruder. Nachdem geklärt war, dass sie mich wirklich alleine lassen konnte, ging sie schließlich seufzend. Ich hatte beinah den Eindruck, sie brauchte mehr Beistand als ich. Ich meine, das mit dem Bruder war schon aufregend und alles, aber eine Mail von Leila schlug alles andere. Und sie war es! Es stand in ihrer Mail zwar nichts von Unterricht oder Mathe, aber sie wollte sich mit mir treffen! Und das am liebsten noch heute. Mein Freudenschrei war wohl etwas zu laut gewesen, denn meine Mutter kehrte zurück und fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei. Natürlich war es das und wie! Ich erklärte irgendwas von richtigen Antworten in einem Test, was eine ziemlich schwache Erklärung war, denn ich schrieb selten falsche Antworten. Aber es reichte ihr wohl. Sofort beantwortete ich Leilas Mail und schlug vor, uns vor dem Einkaufszentrum zu treffen. Ich hatte mitbekommen, dass sich dort auch schon andere „Paare“ verabredet hatten. Wir vereinbarten, uns dort um 18 Uhr zu treffen. Meine Vorfreude auf das Treffen dauerte ungefähr zehn Minuten, denn mein Vater bat mich zu einem ernsthaften Gespräch.
Er machte mir klar, dass ich ab sofort das Haus nicht verlassen dürfe. Zur Schule würden mich außer Hannes auch zwei Bodyguards begleiten. Geschockt fragte ich ihn nach Gründen. Ob ich etwas falsch gemacht hätte, wollte ich wissen. Er sagte nur, er könne es mir nicht erklären, ich hätte nichts falsch gemacht. Mutter intervenierte, er müsste doch verstehen, dass es mir wie eine Strafe vorkäme.
„Nun gut“, sagte Vater. „Ich weiß, du hast von deinem Bruder erfahren. Darum geht es. Er ist, wie man sagt, kein guter Mensch und ich befürchte, dass er dich vielleicht entführen will, um sich bei mir zu rächen.“
Dass ich da so ratlos stand, berührte ihn wohl.
„Ich musste ihn damals wegschicken, weil er einen großen Fehler begangen hatte, der …“ Er unterbrach sich selbst, denn er wollte wohl nicht zu viel erklären und fuhr fort: „Es ist nicht gegen dich, nur zu deinem Schutz. Du bist mir neben deiner Mutter das Allerwichtigste. Es wird auch nur ein paar Tage dauern.“
Und das war’s, mehr wollte er dazu nicht sagen. Das war schon verrückt: Erst hatte ich von einem Bruder erfahren und dann gehört, dass er kein guter Mensch sei und wahrscheinlich ein Bankräuber war. Am selben Tag war ich mit dem schönsten Mädchen, das ich kannte, verabredet und jetzt?
Nach zwei Runden Playstation wusste ich, dass ich heute neben der Kappe war und gar nichts mehr peilte. Ich versuchte mich an den Hausaufgaben, normalerweise ein Klacks für mich, aber ich schweifte immer wieder ab. Inzwischen war es bereits 17.30 Uhr. Wenn ich Leila treffen wollte, musste ich los. Einfach rausspazieren ging nicht. Dann hätte ich durch das Treppenhaus gemusst und meiner Mutter mit ihren Argusaugen entging nichts. Ich brauchte eine Taktik. Eigentlich gab es nur eine Sache bei der selbst meine Eltern akzeptierten, dass ich nicht gestört werden durfte – wenn ich programmierte. Schließlich profitierten sie auch vom Erlös meiner Adventuregames. Also verkündete ich, dass ich mich jetzt an den letzten Level, den schwierigsten, meines aktuellen Games begeben würde. Vater murrte nur etwas Zustimmendes, Mutter schaute besorgt, nickte aber. Ich begab mich wieder in den ersten Stock, dann ins Gästezimmer und von dort auf den Balkon und blickte in die Tiefe. Ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob ich wieder hinaufklettern könnte, nahm ich das Regenrohr als Fluchtweg und stand pünktlich um 18 Uhr vor dem Einkaufscenter.
Hätte ich ein Geschenk besorgen sollen? Blumen wären zu kitschig, ein Buch zu unverbindlich gewesen. Vielleicht ein T-Shirt mit einem lustigen Aufdruck wie ‚Vegetarier sind die, die unserem Essen das Essen wegessen’? Da hätte ich mir schon was Eigenes einfallen lassen müssen. Dummerweise tauchten dann plötzlich Dirk und Sven auf, nahmen mich ins Visier und kamen auf mich zu. Wieder kam Leila im rechten Moment und Dirk und Sven blieben gespannt stehen. Ich strahlte der schönen Leila entgegen, aber sie wirkte irgendwie angespannt oder gestresst und erst, als sie mich sah, schien sie erleichtert.
„Oliver! Schön, dass du es doch geschafft hast.“
Was meinte sie mit ‚doch’? Sie konnte doch nichts vom Ausgehverbot meines Vaters wissen.
„Ich dachte, du kommst vielleicht nicht.“
„Aber klar, wir waren doch verabredet, es war nicht ganz einfach. Aber woher …?“
„Später! Komm wir müssen gehen.“
„Wohin?“
„Nun komm schon, wir haben nicht viel Zeit.“