Spätestens als ich zu Hause eintraf, wurde mir klar, dass sich die Welt doch wieder bewegte, denn Hannes blieb verschwunden. Nachdem er mich morgens in der Schule abgesetzt hatte, sollte er noch ein paar Einkäufe erledigen und dann meinen Vater zu einer Geschäftsbesprechung fahren. Hannes und das Auto – ein Phaeton – tauchten nicht mehr auf. Es herrschte helle Aufregung, Mutter sorgte sich um Hannes, Vater um das Auto. Und dann schlug Mutter vor, die Polizei zu informieren. Der Vater schaute sie an, als ob sie das Auto gestohlen hätte, schlug mit der Faust donnernd auf den Tisch: „Nein, das nicht mit mir! Keine Polizei und wage dich nicht!“
Ich bekam das zwar alles mit, hatte jedoch anderes im Sinn, schnappte mir einen Teller mit Klößen und Gulasch und lief in mein Zimmer in der ersten Etage. Normalerweise aßen wir immer gemeinsam, aber heute wollten weder Vater noch Mutter etwas essen. Ich dankte es ihnen, konnte ich mich doch so meinen Träumen widmen. Während ich aß, starrte ich auf meinen Monitor. ‚Sülzgirl 3232’. Was, um Himmels Willen sollte ich ihr schreiben? ‚Nettes Gespräch heute, ich liebe dich’ oder ‚Danke für deine Hilfe, ich wäre sonst vermöbelt worden’ oder ‚Ich habe noch keine Erfahrung mit Mädchen, Sex oder so was, aber ich habe schon mal, bzw. öfter …’
Besser ich schreibe: „Wie kann man nur so dumm sein? Wo seid ihr denn in Mathe?“
Das Letztere schien mir angemessen. Da sich Leila als ziemlich intelligent erwiesen hatte, konnte man auch ganz unverfänglich über Mathe chatten. Ja, das war die Lösung.
Bevor ich jedoch etwas schreiben konnte, wurde ich durch einen Aufruhr im Erdgeschoss abgelenkt. Was war da los? Ich ging hinunter und sah Hannes, der weinend im Türrahmen stand, seine Chauffeursmütze hielt er in der Hand. Die Mutter strich ihm beruhigend über den Unterarm, der Vater schrie, warum er nicht angerufen habe. Es stellte sich heraus, dass jemand Hannes die Vorfahrt genommen und den Luxuswagen erheblich demoliert hatte. Nach dem Unfall war der andere Fahrer ausgestiegen, hatte sich den Schaden angesehen und war dann weiter gefahren. So ein Auto habe ja schließlich eine Vollkaskoversicherung, hatte er noch gesagt. Natürlich rief Hannes dann die Polizei, die alles aufnahm und schließlich bei der Angabe des Nummernschilds des Unfallgegners stutzig wurde.
Bevor Hannes meinen Eltern weiter berichten konnte, klingelte es. Es waren zwei Polizeibeamte in zivil – also von der Kripo. Durch die Überprüfung des Nummernschildes hatte nämlich ein wirkliches Problem begonnen, denn das andere Auto bzw. sein Halter war an irgendeiner schlimmen Sache beteiligt gewesen. Und dann kam es: Der Sohn meines Vaters habe damit etwas zu tun. Ich duckte mich etwas tiefer hinter das Treppengelände. Ich? Man hatte das Auto des Unfallgegners gefunden und Fingerabdrücke festgestellt, die mit dem von einem Bankraub übereinstimmten. Aber ich war doch der Sohn meines Vaters und ich konnte weder Auto fahren, noch hatte ich einen Bankraub begangen.
Dann sagte einer der Polizisten etwas, das mir die Knie weich werden ließ. „Ist Ihr Sohn zu Hause?“
‚Wohin?’, fragte ich mich. Egal, sie würden mich ja doch finden. Ich schlich in mein Zimmer und es dauerte nicht lange, bis sie bei mir waren.
„Du bist …?“
„Oliver“
„Wie alt?“
„Dreizehn.“
Die Polizisten schauten sich an. „Da stimmt was nicht“, sagte der eine.
„Scheint mir auch so “, der andere.
Sicherheitshalber fügte ich hinzu, dass ich heute mit der Bahn …
Obwohl das alles sehr merkwürdig war, hatte ich es schnell vergessen und kümmerte mich wieder um meinen PC. Ich schrieb Leila, was wir in den letzten Monaten durchgenommen hatten und wollte wissen, wie es bei ihr aussieht. Ich war richtig stolz auf mich.
„Oliver?“ Meine Mutter stand in der Tür, kam auf mich und nahm mich dann die Arme. „Es tut mir leid“, sagte sie.
„Was?“, fragte ich.
Sie schaute mich ernsthaft besorgt und auch mitleidig an, als ob ich doch noch für den nicht begangenen Bankraub ins Gefängnis müsste und schüttelte den Kopf. „Dass du es so erfahren musstest.“
„Ich verstehe nicht.“
„Na, dass du einen Bruder hast.“
„Was habe ich? Einen Bruder?“
„Ja, als du drei Jahre alt warst, ist er ausgezogen.“
„Aber ihr habt nie von ihm gesprochen.“
„Das hatte seinen Grund.“