Mein Bruder Geld

Der dreizehnjährige Oliver ist in seiner Schule als Streber verschrien. Zudem lässt ihn sein Vater von seinem Chauffeur zur Schule bringen, was bei den anderen Schülern auch nicht gut ankommt. Eines Tages jedoch bleibt der Chauffeur aus und Oliver muss mit der Straßenbahn fahren. Dort lernt er die sehr attraktive Leila kennen, die ihn vor einem Mitschüler in Schutz nimmt und sich sogar mit ihm verabredet.
Durch Leila lernt er seinen verschollenen Bruder kennen. Der hat aber nichts anderes vor, als Oliver zu entführen. Nachdem Oliver die Gründe für seine Entführung erfahren hat, stimmt er sogar seiner eigenen Entführung zu.

 

An diesem Tag war fast alles wie immer – fast. Der Chauffeur meines Vaters brachte mich zur Schule. Dort wimmelte es nach wie vor von Monstern, Aliens und Piraten, nur gelegentlich blickte ich von meinen Comics auf, um eine Frage der Lehrer zu beantworten, die sonst niemand wusste. Was hätten die Lehrer ohne mich gemacht? Sich eingestanden, dass sie langweilig ohne Ende waren? Es gab aber eine Ausnahme und die hieß Knast-Ralf. Nicht, dass unser Mathelehrer Ralf Manfeld schon mal eingesessen war, aber er hatte dort unterrichtet und was er davon erzählte, ließ uns jedes Mal aufmerken. Die geheimen Botschaften verstummten, das Abschreiben der Hausaufgaben musste warten und selbst Sema flirtete nicht mehr mit Sven. Denn immer dann, wenn Herrn Manfeld klar wurde, dass unsere Aufmerksamkeit seinen brisanten Erklärungen über trigonometrische Formeln nicht mehr folgen konnte, sagte er: „Nun, ich weiß noch, wie ich Gustav Möller auf den Abschluss vorbereitet habe …“ Die Namen der Beteiligten waren allesamt ausgedacht, denn wer will es sich schon mit einem Knacki verscherzen. Und dann erfuhren wir alles über das Leben von Einbrechern, Erpressern, Schlägern und! Mördern. Und wir hörten zu!

Wie langweilig war dagegen das normale Leben, vor allem eines wie meins. Nach der Schule wartete ich wie immer auf den Chauffeur Hannes und war in Gedanken natürlich bei dem Bankräuber Gustav Möller, der nur erwischt wurde, weil sein Fluchtfahrrad einen Platten hatte. Jeder weiß doch, dass man für einen richtigen Bankraub einen Komplizen braucht, der mit laufendem Motor vor der Bank wartet. Ein Fahrrad! Auch das hätte mir jetzt geholfen, denn Hannes tauchte nicht auf. Es war schon peinlich, wie Dirk und Doris mich anstarrten, als ich da Fuß wippend stand. Es half nichts, ich musste mit der Bahn fahren und wusste, was mich erwartete: „Ach, der Herr Streber! Das kleine Arschloch gibt sich die Ehre…“ Das waren nur die harmlosesten Varianten.

Doch auch in der Bahn war es heute anders als sonst. Die Jungens aus unserer Schule ließen mich zunächst in Ruhe. Mir fiel auf, dass sie immer wieder die Köpfe zusammensteckten und tuschelten oder kicherten. Zwischendurch blickten sie in meine Richtung, um dann ihr Getuschel fortzusetzen. Wahrscheinlich dachten sie sich aus, was sie mit mir anstellen konnten. Schließlich war es soweit, Markus aus der Parallelklasse stand auf und kam auf mich zu. Ich blickte mich hilflos um, hoffentlich bemerkte er mein Zittern nicht. Er kam immer näher, doch dann warf er mir nur einen kurzen Blick zu und ging an mir vorbei. Ich sah ihm nach und dann wusste ich, warum sie in meine Richtung geblickt hatten. Denn hinter mir stand ungefähr das schönste Mädchen, was ich jemals gesehen hatte. Lockiges braunes Haar, dunkelgrüne strahlende Augen und ein perfekter Mund.

Markus blieb vor ihr stehen. „Hi, ich bin Markus von der Fritz Walter. Da hinten das sind meine Kumpels.“
Sie strahlte ihn an. „Hi, ich bin Leila. Was kann ich für dich tun?“
„Äh … ich wollte nur …“
Dummerweise fuhr die Bahn jetzt durch eine Kurve und alle, die standen, gerieten aus dem Gleichgewicht. Pech für Markus, der sich ganz cool nirgendwo festhielt, er strauchelte zur Seite, ausgerechnet auf mich zu. Als er gegen mich stieß, gab er mir noch einen Stoß. „Pass doch auf, du Depp!“ Obwohl ich nichts dafür konnte, murmelte ich eine Entschuldigung. „Verschwinde!“, zischte er mir zu. Ich wollte gerade gehen, als sich Leila einmischte. „Du bist aber auch ein Idiot. Warum hältst du dich nicht fest? Und lass meinen Freund in Ruhe!“
„Der ist dein Freund? Oliver ist dein …“, stammelte Markus.
„Komm, Oliver, das ist mir zu blöd hier.“ Leila nahm meine Hand und zog mich weg. Markus und die anderen starrten uns, wahrscheinlich mit offenen Mäulern, hinterher. Jetzt hatte ich ein echtes Problem, das heißt, mindestens zwei, denn die Jungens waren jetzt erst richtig sauer auf mich, aber das größte Problem stand jetzt unmittelbar vor mir. Wie sollte ich mit einem Mädchen reden und dann noch mit einem, das so schön und kess war. Ja, wie?
Sie machte den Anfang: „Sind alle von eurer Schule so neben der Rolle?“
„Na, ich schätze, von den 390 Schülern haben etwa 35% eine Vollmeise, 40% eine Meise und der Rest geht so.“
„Das heißt, ihr habt ein ¾ Problem?“
„Was die Schüler angeht.“
„Von Problemen mit den Lehrern, musst du gar nicht erst anfangen.“
„Auf welcher Schule bist du denn?“
Und so ging es weiter, wir redeten ohne Luft zu holen. Und erst, als ich aussteigen musste, wurde mir klar, was passiert war. Ich hatte überhaupt keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was ich sagen wollte. Man konnte mit ihr einfach über alles reden und ich hatte es getan. Nur das Entscheidende, nämlich, sie nach ihrer Handynummer oder Adresse zu fragen, kam mir zwar in den Sinn, aber ich brachte es nicht über mich. Die Bahn hielt und ich gab Leila die Hand. Schade, dachte ich und wendete mich zum Ausstieg. „Wenn du magst, kannst du mich ja mal anchatten oder mailen, Sülzgirl 3232.“
Sie hatte mir ihre Addy gegeben! Auf dem Fußweg nach Hause wiederholte ich immer wieder diese Adresse, blieb schließlich stehen und gab sie in mein Handy ein. „Das ist ein schöner Tag“, dachte ich immer wieder und „Leila, die Schöne, die Wunderschöne! Leila!“ Die Welt stand still und meinetwegen konnte das so bleiben. “Leila!“

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