Stadt, Land, Fluss

Jürgen Sander vergleicht angestrengt die ausgedruckten Tabellen mit denen auf einem seiner Monitore und entdeckt schon wieder einen Fehler. Nervös blickt er auf seine teure Armbanduhr und drückt die Sprechtaste zum Vorzimmer.
„Gudrun! Das gibt es doch nicht! Wir haben schon wieder …“
Es klopft und seine Sekretärin Gudrun Meis steht in der Tür.
„Ich weiß Chef!“ Gudrun wedelt mit Papieren. „Ich habe die aktuelle Version hier. Die Filiale hat mal wieder total gepennt.“
Jürgen ringt sich ein Lächeln ab. Er ist 48 Jahre alt, businesslike gekleidet und trägt Hornbrille und Seitenscheitel. Gudrun, nicht viel jünger als er, ist eine außergewöhnliche Strahlemaus. Selbst die schlechtesten Nachrichten verkauft sie nonchalant. „Wenn ich Sie nicht hätte, gäbe …“
„Gäbe es ein großes Drunter und Drüber. Ich weiß.“
„Wo verdammt?“ Er hört gar nicht mehr zu, sondern kramt in einer Schublade.
„Chef! Der Termin ist in einer Viertelstunde! Was sie jetzt nicht im Kopf haben, nützt Ihnen gar nichts mehr.“
Jürgen schaut sie an und weiß, dass sie Recht hat. „Nützt gar nichts mehr!“
„Genau!“

Auf der Bereichsleiterkonferenz der Jahn&Jahn GmbH für Gebäudetechnik referiert der Kollege Matthusen die Quartalsergebnisse Nord mit Power Point. Jürgen versucht sich zu konzentrieren, aber die Zahlenkolonnen verschwimmen vor seinen Augen, es entrutscht ihm ein „Unglaublich!“ an unpassender Stelle. Matthusen hält ein und alle starren Jürgen an. Der Geschäftsführer Dr. Jahn räuspert sich. „Herr Sander!“
„Ja?“, antwortet Jürgen irritiert.
„Was ist unglaublich?“ Dr. Jahn betont „unglaublich“.
„Diese Zahlen!“
„Was ist mit den Zahlen?“
„Es sind so viele!“, entfährt es Jürgen.
Betretenes Schweigen. Schließlich wird es von Dr. Jahn unterbrochen. „Wie meinen Sie das?“
Jürgen schaut betreten umher und fragt sich, ob denn niemand anderes diese Zahlenflut bemerkt hat. Das ist doch nicht normal.
„Nein, ist es nicht!“, sagt Jürgen, für die anderen ziemlich zusammenhanglos.
„Wie bitte?“
„Ich habe nur zu mir selbst gesprochen, Entschuldigung“, erklärt Jürgen.
Wieder betretenes Schweigen.

„Was haben wir denn hier?“, fragt der Psychiater Hahnkamp in der Aufnahmestation den begleitenden Pfleger.
„Er phantasiert. War zeitweise nicht mehr ansprechbar. Aber die Bilder auf dem Flur haben ihm nicht gefallen“, antwortet der Pfleger.
„Haben wir überhaupt Bilder auf dem Flur?“, fragt der Psychiater.
„Ich glaube schon“, meint der Pfleger.
„Munch, Klee, Kandinsky“, erklärt Jürgen, der dem Psychiater auf dem Schreibtisch gegenüber sitzt. „Aber das passt doch nicht hierhin.“
„Warum nicht, Herr Sander?“
„Weil das meines Erachtens ein Krankenhaus ist und da sollte man die Menschen aufheitern und nicht mit rätselhaften Bildern konfrontieren.“
„Hm“, meint der Psychiater und wendet sich an den Pfleger. „Können Sie mal einen Moment aufpassen?“, fragt er ihn und geht hinaus auf den Flur, auf dem weit und breit keine Bilder zu erkennen sind.

Ziemlich aufgepeppt steigt die Brünette Nicole aus ihrem Minicooper und stolziert zum Eingang der psychiatrischen Anstalt.
Im Sprechzimmer erklärt ihr Dr. Hahnkamp die Lage, während sie kaum interessiert auf ihre Fingernägel schaut.
„Erschöpfungszustände können schon mal diese Visionen auslösen. Hat ihr Verlobter …“
„Freund reicht“, korrigiert Nicole.
„Hat ihr Freund auch zuhause schon mal Dinge gesehen, die nicht da sind?“
„Möglich. Er redet meist nur von der Arbeit. Was anderes interessiert ihn nicht. Es ist langsam echt langweilig. “
„Haben Sie denn keine gemeinsamen Interessen?“
Nicole zuckt die Schultern. „Früher haben wir mal Tennis gespielt. Da hat er sich wirklich ausgepowert“, antwortet sie mit einem Anflug von Bewunderung. „Aber Golfen ist nichts für ihn, sagt er. Schade eigentlich.“
„Aber sie wohnen doch zusammen?“
„Mehr oder weniger.“
„Wie kann ich das verstehen?“
„Getrennte Betten!“
Hahnkamp nickt verständnisvoll. „Wie lange geht das schon so?“
Nicole guckt irritiert auf. „Schon lange!“ Sie beugt sich verschwörerisch zu ihm herüber. „Wissen Sie, wenn er mir eine eigene Wohnung finanzieren würde, wäre ich schon längst ausgezogen.“
„Haben Sie denn selbst kein Einkommen?“
„Doch schon. Ich arbeite in einem Reisebüro, aber das reicht nicht. Nicht mehr.“
Hahnkamp blickt verwundert auf, aber Nicole erklärt ihre Anfügung nicht.
„Zunächst werden wir ihn medikamentös einstellen. Parallel erfolgt eine Therapie, möglicherweise anschließend eine Reha. Ob er dann wieder arbeiten kann, wird sich zeigen.“
„Und wenn nicht?“
„Hängt davon ab, wie er versichert ist.“
„Und sein Lohn?“
„Sechs Wochen und dann Krankengeld, aber jetzt braucht er erstmal vollkommene Ruhe.“
„Darf ich ihn sehen?“
„Einmal noch, damit sie bestimmte Dinge abklären können und dann hat er vier Wochen lang Besuchsverbot.“

Jürgen sitzt sichtlich sediert in der Cafeteria der Anstalt. Er blickt ohne Regung sehr langsam umher.
„Jürgen“, sagt Nicole, als sie plötzlich neben ihm steht.
Er blickt auf. „Nicole“, sagt er teilnahmslos.
Sie setzt sich neben ihn. „Was machst du?“ Sie drückt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Ich? Was ich mache?“
„Ja, du kannst doch nicht einfach hier rumsitzen, so krank und nichts tun. Was ist denn, wenn du deinen Job verlierst?“
„Ich mach doch was.“
„Was denn?“
„Ich rechne!“
„Du rechnest? Ach, wieviel Geld du noch bekommst?“
Jürgens Blick wendet sich ab. „Aber es sind so viele Zahlen. So viele! Ich bin müde!“
Nicole starrt ihn verwundert an, dann legt sie ihm ein Schreiben vor. „Hier musst du unterschreiben!“, fordert sie ihn auf und drückt ihm einen Stift in die Hand.
Er schaut sie hilflos an.
„Es muss doch weitergehen, wenn du nicht da bist, Schatz!“, erklärt sie mit einschmeichelnder Stimme.
„Ja, weitergehen“, sagt er und lächelt sie an.
„Hier!“, sagt sie und führt ihm die Hand. Er unterschreibt. Schnell nimmt sie das Schreiben an sich und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. „Erhol dich gut, mein Schatz! Bis bald!“ Sie wendet sich ab und blickt im Gehen auf das Schreiben. Es ist eine Kontovollmacht.
Jürgen ist bereits wieder mit Zahlen beschäftigt.

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