Die Eingeweihten

Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn, als er ihre Hände durch die Lederjacke auf seiner Brust spürte. Ausgerechnet bei ihm hatte sie sich auf den Beifahrersitz gesetzt. Er blickte sich kurz um und sah ihre langen blonden Haare im Fahrtwind wehen. Für die kurze Strecke zu ihr nach Hause hatten sie keinen Helm angezogen. Sie lächelte ihn an. Er kannte sie erst wenige Tage. Ein Klassenkamerad hatte ihn mit zu dieser Clique in einem anderen Ortsteil mitgenommen. Bisher hatte er nicht viel mit Mädchen zu tun gehabt, da auf seiner Schule nur Jungen waren. Und Miriam, die jetzt mit ihm fuhr, war mit ihren braunen Augen und blonden Haaren die Attraktivste aus der Clique.

Einer jener Herbsttage, an denen es einem bewusst wird, dass der Winter näher rückt. Hendrik Asten schulterte wie gewohnt seinen Tatonka-Rucksack und begab sich zur Tür. Als er am großen Wandspiegel im Flur vorbeikam und einen flüchtigen Blick riskierte, irritierte ihn die Erscheinung eines grauhaarigen Endfünfzigers mit dieser Globetrotterikone auf dem Rücken. Das passte einfach nicht zu seinem sonst eher seriösen Erscheinungsbild und hätte wahrscheinlich auch bei dem ersten Treffen keinen guten Eindruck hinterlassen. Es war einfach eine Angewohnheit, die er seit seiner Studentenzeit pflegte, immer für eine Transportmöglichkeit zu sorgen. Das wenige, was er benötigte, Zigaretten, Feuerzeug und auch den Aufnahmerecorder konnte er in seinem Trenchcoat unterbringen. Aber die Jeans zum Jackett darunter blieben für ihn unantastbar.

Nachdem er auf dem Parkplatz in der Nähe des Stadtgartens angehalten hatte, zog er noch einmal ihr Foto hervor. Es war leicht verschwommen, weil aus einem alten Super8 Film kopiert, aber ihre Schönheit war unübersehbar. Immerhin war der Film 40 Jahre alt und jetzt erst, war er ihm bei Renovierungsarbeiten in die Hände gefallen. Es hatte noch einige Zeit gedauert bis er einen alten Projektor aufgetrieben und dann aus dem Film ein Einzelbild kopiert hatte. Lange hatte er nicht mehr an sie gedacht, aber nach dem Fund des Films tauchten die alten Erinnerungen wieder auf. Er hatte sich damals in sie verliebt und sie gefragt – wie man es in der Zeit ausdrückte – ob sie mit ihm gehen wolle. Sie hatte sich einen Tag Bedenkzeit ausgebeten und schließlich telefonisch zugestimmt. Dann verabredeten sie sich zu einem Treffen, zu dem sie nicht erschien. Er machte sich Sorgen und rief bei ihr zuhause an – es gab ja noch keine Handys. Sie meldete sich selbst, entschuldigte sich und erklärte es damit, dass sie erfahren habe, dass ihr Vater in eine andere Stadt versetzt würde und es daher wohl keinen Sinn mache mit ihnen. Er erwiderte, dass sie das ihm auch persönlich hätte mitteilen können. Ja schon, aber es sei ihr peinlich gewesen. Sie redeten nicht mehr viel, schließlich war er ja auch sauer. Verwunderlich war, dass die Familie nie wegzog, aber Miriam dennoch nie mehr auftauchte.

Nachdem er den Film gefunden hatte, den er damals bei einer Party seiner Clique aufgenommen hatte, stöberte er im Internet ihre ehemals beste Freundin auf und verabredete sich mit ihr. Das Foto hatte ihn nicht mehr losgelassen, alte Gefühle tauchten auf, die er damals nach ihrer Zurückweisung verdrängt hatte. Mehrere auch langjährige Beziehungen lagen hinter ihm, nur bei wenigen hatte er sich dabei so ähnlich verzaubert gefühlt wie damals bei Miriam. Sie stellte für ihn die Urform der Affinität zu Frauen dar: Intensive Sehnsucht.

Bei diesen Temperaturen saß niemand mehr draußen, was er schade fand, denn eine Zigarette würde ihm sicher gut tun, wenn er mehr über Miriams Verbleib erfahren würde. Er war sehr gespannt. „Das wird nicht ganz einfach werden“, hatte Miriams Freundin zu seiner Verwunderung am Telefon gesagt. „Miriam ist damals in eine dumme … Nein, ich will am Telefon nicht mehr erzählen. Mehr beim Treffen.“

Hendrik erkannte Irene gleich wieder. Sie war zwar etwas fülliger geworden, aber ihr charakteristischstes Merkmal die rötliche Löwenmähne und die strahlenden blauen Augen machten sie unverwechselbar.

Er ließ sich Zeit. Das Thema Miriam gleich anzusprechen, wäre sonst zu unhöflich gewesen. Aber schließlich gab es genügend andere Anknüpfungs-punkte. Sie hatte auch zu der Clique gehört, zu der er sich damals hingezogen fühlte – mehr als zu Mitschülern der eigenen Schule. Sie war inzwischen Vorstandssekretärin einer großen Versicherung und hatte zwei erwachsene Kinder, die studierten. Er erzählte von sich, dass er Lehrer für Deutsch und Geschichte sei. Nach einigem Geplänkel über die aktuelle Schulsituation sprach sie von sich aus das Thema „Miriam“ an. Ein Fotograf habe damals Miriam eine große Karriere als Modell versprochen. Naiv habe sich Miriam auf ihn eingelassen, die Schule abgebrochen und sei zu ihm gezogen. Alles gegen den Willen der Eltern, die sie aber schließlich gehen ließen, weil Miriam drohte, sonst den Kontakt zu ihnen abzubrechen. Hendrik merkte, wie Irene schluckte, bevor sie weitererzählte. „Zunächst hat er wirklich gute Fotos von ihr gemacht und sie auch angeboten. Einige Agenturen interessierten sich wohl auch für sie, aber es kam nie zu einem Vertragsabschluss. Und dann ist sie mit ihm nach Berlin gezogen. Aus irgendwelchen Gründen mussten sie hier weg.“
„Mussten?“, fragte Hendrik.
„Ich weiß es nicht genau. Ich kannte ihn ja überhaupt nicht. Irgendwer murmelte etwas von Schulden, die er nicht begleichen konnte.“ Irene zuckte die Schultern.
„Das ist ja nicht all zu viel. Und du hast nie wieder von ihr gehört?“, fragte Hendrik.
„Einmal hat sie einen Brief geschrieben. Darin stand, dass sie sich in Berlin eine neue Existenz aufgebaut hätten und dass es ihnen gut gehe. Viel mehr nicht. Das war´s.“
„Mmh, ich hab sie mal gegoogelt. Keinen Treffer.“
„Da fällt mir noch etwas ein. Ich habe natürlich auf dem Briefumschlag nach einer Anschrift gesucht, aber da stand nur Miriam, Berlin.“
„Das ist doch schon merkwürdig. Hat sie denn keine Antwort erwartet?“
„Offenbar nicht.“ Damit beendeten sie das Thema und schwelgten noch ein wenig in gemeinsamen Erinnerungen. Mit dem üblichen Versprechen, sich mal wiederzusehen, von dem beide ahnten, dass es eine Floskel war, beendeten sie den Abend.

Bereits auf dem Nachhauseweg hatte Hendrik über die Sache gegrübelt, irgendetwas machte ihn stutzig. Lange kam er nicht darauf, was es war. Als er zuhause schließlich noch einmal Miriams Foto anschaute, erinnerte er sich an das Telefongespräch mit Irene, darin hatte sie von einer „dummen Sache“ gesprochen und äußerst geheimnisvoll getan. Aber das, was sie bei dem Treffen erzählte, wirkte gar nicht so, als wenn es sich um eine „dumme Sache“ handelte oder gar geheimnisvoll war. Gut, es war nicht klar, warum sie nach Berlin gezogen waren. Da gab es mehrere Möglichkeiten, bis hin zu der Tatsache, dass sich der Fotograf dem Wehrdienst entziehen wollte. Da die Bundeswehr damals auf Berlin keinen Zugriff hatte, war es für viele eine geeignete Fluchtmöglichkeit. Da Irene sich an den Nachnamen des Fotografen erinnert hatte, machte er noch einen Versuch und suchte nach der entsprechenden Namensverbindung im Internet. Aber auch dies blieb erfolglos.

Hendrik beschloss trotz Irenes Widersprüchlichkeit, die Sache ad acta zu legen und einige Tage später dachte er nicht mehr daran, ohne zu ahnen, dass die Angelegenheit wieder in sein Leben treten würde.

An einem Tag, an dem sich die Herbstsonne noch einmal richtig durchsetzen konnte und die Luft angenehm mild war, hatte er ein Essen mit Freunden geplant, das sogar aufgrund des Wetters draußen im Garten stattfinden konnte und langsam wurde es Zeit, sich dem kulinarischen Teil des Tages zu widmen, schließlich brauchte der Krustenbraten seine Zeit. Neben dem Lesen war Kochen in den Ferien seine Lieblingsbeschäftigung. Er erwartete Sandra, seine Ex, deren beste Freundin Marie und seinen Freund Alex. Sozusagen der engste Kreis seiner Freunde und bis auf Alex alle Singles, seine Freundin war verhindert.

„Köstlich, diese Wacholdersauce“, lobte ihn Sandra.
„Das Fleisch ist auch nicht von schlechten Eltern“, ergänzte Marie.
„Die hatten wohl richtig guten Sex bei der Erzeugung desselben“, meinte Alex. Woraufhin die anderen ein Seufzen ertönen ließen. Alex war bekannt für seine niveauvollen Witze und Bemerkungen.
„Das schmeckt man eben“, verteidigte Alex sich.
„Er hat gar nicht so unrecht, denn die Güte des Fleisches hängt natürlich von den Lebensbedingungen der Tiere ab“, erklärte Hendrik.
„Jetzt bitte keinen Ökovortrag, Hendrik“, versetzte Marie, die sich bewusst unreflektiert ernährte.

Alex, der durchaus auch interessante Geschichten aus seinem Leben als Berufsfotograf erzählen konnte, tat eben dies und damit bot sich für Hendrik, der diese Geschichte schon kannte, die Möglichkeit sich ein wenig innerlich zurückzuziehen. Er schweifte mit seinem Blick über den großen Garten, in den er viel Arbeit investiert hatte, und den Teich, in dem leider einige Kois den letzten Winter nicht überstanden hatten, und dann geriet zunächst Sandra in seinen Blick. Nicht langweilig hübsch, aber verdammt schön. Schlank, dunkles kräftiges Haar und intensive grünblaue Augen. Er liebte sie noch immer, wusste immer noch nicht genau, was schief gelaufen war. Sie war intelligent, hatte Humor, aber auch Schwächen, denen er anscheinend nicht gewachsen war. Er hatte oft ihre Selbstzweifel nicht verstehen können, wurde ungeduldig, wenn sie sich seinen „logischen“ Argumenten nicht anschließen konnte und an ihren Zweifeln beharrte. Dann trennten sie sich einvernehmlich, um sich gegeneinander nicht im Weg zu stehen. Marie, ihre beste Freundin, war eine sehr liebe, aber auch eigensinnige Frau. Es gab Themen, die er mit ihr nicht besprechen konnte. Sie wirkte durchaus weiblich und war für viele Männer bestimmt sehr attraktiv. Dann landete sein Blick auf Alex, einer seiner ältesten Freunde. Er war weltoffen und erfahren, viel gereist und hatte viel erlebt. Man brauchte eigentlich nicht zu googeln, wenn man etwas über ein Land erfahren wollte. Frag Alex! Er war nicht der attraktivste unter den Männern, aber die Frauen mochten ihn trotzdem. Hendrik beendete seine kontemplative Phase und füllte die leeren Gläser der Freunde.
„Hendrik, du bist so still“, sagte Sandra.
„Ach ja, ich wollte doch Alex nicht unterbrechen.“
„Der kannte das schon“, schützte ihn Alex.

Das Telefon klingelte. Es war Irene. „Hendrik, wir müssen uns dringend noch mal treffen. Ich habe gerade etwas Merkwürdiges erlebt“, sagte sie fast atemlos.
„Und was?“
„Ich habe Miriam gesehen.“ Eine Zeit lang herrschte verblüfftes Schweigen.
„Bist du dir sicher?“, fragte Hendrik ungläubig.
„Ja schon. Sie ist mir auf der Straße vor unserem Haus begegnet und ich habe sie angesprochen. ‚Miriam, bist du das?‘, habe ich sie gefragt und sie hat irgendwas auf Russisch geantwortet, dass sie mich nicht verstehen könne oder so. Ich habe es dann auf Englisch versucht, das konnte sie, aber sie hat gesagt, dass sie Tanja heißt, hat sich entschuldigt und mich einfach stehen lassen.“
„Das ist wirklich merkwürdig. Aber kann es nicht sein, dass du … es ist schließlich vierzig Jahre her und wir haben viel über sie gesprochen … sie in einer anderen gesehen hast?“
„Nein, ich bin mir ganz sicher.“
„Aber warum gibt sie sich nicht zu erkennen?“
„Das wüsste ich auch gerne. Was machen wir jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Wir können uns morgen noch mal sehen, heute Abend geht es leider nicht, da ich Besuch habe.“
„Einverstanden.“

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