Song für Leilah

Ein exzentrischer Musiker wird verdächtigt, seinen Produzenten ermordet zu haben. Seine Tochter eilt ihm zu Hilfe. In den Kreisen von Schlagerproduzenten und Raubkopierern stößt sie auf illustre Gestalten. 

 

Er erinnerte sie an ihren Vater, ein wenig verrückt, aber sehr talentiert. Seit einer halben Stunde hingen die anderen in den Seilen. Vorzeigesöhne und -töchter des renommierten Internats ‚Lohheide’ waren am Ende ihrer Bierfestseeligkeit angelangt. Während alle zum x-ten Mal mit besäuselter Stimme ihre brillanten Zukunftschancen in den Kaderschmieden der deutschen Top-Unternehmen beschwörten, drängte sich Kai durch die Menge und erkämpfte sich den Klavierhocker gegen den Widerstand eines simple Volksmusikakkorde Dümpelnden und weckte seine Mitschüler auf, indem er ‚Satisfaction’ in die Tasten schlug. Würde er ihr das jetzt antun und den Text singen? Und wie er sang! Beim Refrain starb er förmlich, litt schlimmer als jemals Mick Jagger: „I can get no, I can get no, I can get no … “ Spätestens beim entscheidenden Wort waren die Blicke aller Anwesenden auf Carmen gerichtet.

„Du bist verrückt!“ hauchte Carmen eine Stunde später.  „Nicht so sehr wie du.“ Kai zog seine Hand sanft aus Carmens T-Shirt und legte sie auf  ihren  Oberschenkel. „Was ich noch verrückter finde, dass wir in deiner Wohnung sind und wir benehmen uns wie Sextaner bei ihrem ersten Kuss.“
Sie schaute ihn verliebt an und strich eine blonde Locke aus seiner Stirn. „Immerhin kannst du heute hier schlafen und brauchst dir nicht das Schnarchen deiner Zimmergenossen anzuhören.“
„Hast du gesehen, wie mitleidig die anderen mich angesehen haben? Eine Studentin zur Freundin und dann so was. Da sind unsere Mädels vom Internat …“
„Kai! Jetzt nicht die Casanovanummer!“
„Was denkst du? Wie denn auch? Von denen hat doch nur die dicke Barbara eine eigene Bude.“ Er verschwieg geflissentlich, dass die meisten Mitschüler und Mitschülerinnen die Bude sehr gut kannten. Eine eigene Wohnung zu haben, war das Privileg der Schüler, die älter als 18 Jahre waren – vorausgesetzt die Eltern konnten oder wollten sich das leisten. Kai musste noch ein halbes Jahr auf die Wohnung warten.
„Na ja, Wälder, Scheunen, Wiesen, Gartenlauben und so weiter. Habt ihr denn keine Phantasie?“
„Carmen, du quälst mich.“
Sie wusste natürlich genau, was er wollte und liebte es, ihn damit aufzuziehen. Aber sie hatte ein Prinzip. „Noch zwei Tage, freust du dich schon?“ fragte sie mitfühlend.
Kai schnitt eine Grimasse. „I can get no …“
„Armer Kater. Stell dir vor, ich wäre eine Frau ohne Prinzipien. Du würdest mich nur halb so stark begehren. Stimmt’s?“
„Oh, Carmen. Jedenfalls bist du einzigartig. Die einzige Frau, die ich kenne, die eine Sperrfrist eingerichtet hat. Wieso eigentlich genau zwei Wochen? Reichen nicht zehn Tage? Schau, die Zehn ist eine wunderbare Zahl. Sie kommt vor bei den zehn kleinen Negerlein, bei …“
„Den Zehn Geboten“, unterbrach sie ihn, „ja, mein Lieber da hast du Pech gehabt, dass es die zehn Gebote gibt. Das ist der Grund, warum ich mich nicht für die Zehn entschieden habe. Mein Prinzip hat nichts mit Religion zu tun.“
„Aber die Zwölf. Das wäre heute! Heute! Hörst du? Die Zwölf, ein Dutzend! Welch schöne Zahl!“
„Ja, ich mag die Zwölf auch. Aber leider hab ich mich für die Vierzehn entschieden. Basta, aus!“
„Du bist gnadenlos! I can get no ….!“
„So jetzt reicht es! Hör auf! Als wir uns vor zwölf Tagen zum ersten Mal getroffen haben, hab ich dir mein Prinzip erklärt und du warst einverstanden. Wirst du jetzt wohl friedlich sein!“ Carmen tätschelte ihn wie einen Hund.
„Wuff!“
Das Telefon klingelte unerbittlich. Kai kroch auf allen Vieren zu dem Knochen, nahm ihn ins Maul und apportierte, dann legte er den Kopf schräg, hechelte und beobachtete sie neugierig.
„Vater! Das ist eine Überraschung!“
„Bist du alleine?“
„Was? So gut wie. Warte einen Augenblick.“ Sie wendete sich dem Hündchen zu: „Mach schön sitz und sei brav, ich bin gleich wieder da.“ Dann ging sie in die Küche und schloss die Tür hinter sich.
„Mein Vater!“ sagte Carmen, als sie zurückkehrte. „Es ist schon ungewöhnlich, dass er überhaupt anruft.“
„Wahrscheinlich hat er geahnt, dass ich dich heute von deiner Vierzehn abbringen wollte!“
„Quatsch! Ich mach mir ernsthafte Sorgen.“
„Wieso?“
„Er ist in Schwierigkeiten!“
Kai spielte gelangweilt mit Carmens Rockaufschlag.
„Die Polizei verdächtigt ihn, seinen Produzenten umgebracht zu haben.“
Kai merkte auf. „Hab ich dich richtig verstanden, ‚umgebracht‘?“
„Ja, ‚umgebracht‘! Ich muss sofort zu ihm!“
„Sofort?“
Carmen betrachtete ihr Gegenüber neugierig. Würde er jetzt jammern, nicht zum Zuge gekommen zu sein, hätte sie ihn sofort rausgeschmissen. Aber er hatte Glück, denn er erkundigte sich, was ihrem Vater widerfahren war und sie erzählte ihm, was sie wusste. Nach ihrem Bericht, den sie unruhig auf – und ab laufend vortrug, setzte sich Carmen auf Kais Schoß und blickte ihm tief in die Augen.
„Hast du nicht gesagt, die Zwölf wäre eine schöne Zahl?“
„Ja, schon, aber…?“
„Egal, die Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde. Also!“ Carmen zog ihr T-Shirt aus und begann sein Hemd aufzuknöpfen.

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