Seit langer Zeit hatte er keinen Fuß mehr ins Moustache gesetzt. Dort wimmelte es von angehenden und Möchtegernschriftstellern. Mitunter verirrte sich ein halbwegs erfolgreicher Schreiber dorthin, um sich gebührend feiern zu lassen. Letzteres hatte Zwill nicht im Sinn, als er dort einkehrte, eher ließ er sich unbewusst dahin treiben, um dem Redcliff auszuweichen. Hier würde er keine Filmleute treffen.
Er tauschte mit einigen Bekannten und ehemaligen Studenten die üblichen Belanglosigkeiten und Lästereien über Verlage und Lektoren aus. Obwohl ihn nichts wirklich berührte, fühlte er sich irgendwie zuhause, zurückversetzt in die Zeit, als einem als Anfänger alles möglich schien, man sich nur zwischen Ironie, Purismus oder Realismus entscheiden musste, um dann den Zaubertrank zuzubereiten, dessen Magie die Leser verfallen würden. Ihm fiel auf, dass die jungen Autoren oft noch dieselben unsterblichen Vorbilder hatten wie er seinerzeit – bis auf diejenigen, die an das Wunder der jungen deutschen Literatur glaubten und sich in den Fußstapfen eines Leberts oder Stuckrad-Barres sahen.
In einer Gruppe entstand eine Grundsatzdiskussion über den Einfluss der jungen russischen Autoren auf die deutsche Szene. Jemand warnte vor Epigonentum, da die russischen Verhältnisse unvergleichbar härter und gegensätzlicher seien. Ein anderer hielt dagegen, dass die deutschen Verhältnisse vielleicht sogar krasser und bizarrer seien, aber der wahrhafte Blick darauf fehle.
Zwill fühlte sich diesen Grundsatzdiskussionen entwachsen, sie regten ihn einfach nicht mehr genug auf. Dennoch schloss er sich einer Gruppe an, die in einer Wohnung ihr Gespräch fortsetzen wollte. Er tat dies fast willenlos, denn er dachte nur daran, wie er den Verlust von Debra ausgleichen könnte. Natürlich hätte er jede Figur selbst erfinden können, aber das Schmerzliche war, dass es einen realen Menschen gab, der, und das wusste er, sich absolut mit seiner Phantasie deckte. Alles andere wäre ihm dagegen schal und abgestanden vorgekommen.
In der großen Altbauwohnung, in die sie gingen, interessierte sich Zwill vor allem für die üppige Bibliothek. Er erfuhr, dass deren Besitzer Professor für Jura war und die Literaturliebhaberei zum Ausgleich für seine trockene Materie betrieb. Zwill bemerkte bald, dass er nicht nur Literatur, sondern auch junge Autoren liebte. Von denen versammelte er diejenigen, die seine Neigungen erwiderten, auch alsbald um sich. Übrig blieb eine Gruppe mit zwei jungen Frauen, einem älteren und zwei jungen Männern. Der Ältere verabschiedete sich schnell und auch Zwill wäre gegangen, hätte ihn nicht die Bibliothek derart gefesselt. Die Klassiker nahezu vollständig, aber vor allem viele Exoten, die Zwill gar nicht kannte oder von denen er nur gehört hatte. Im Raum mit der Bibliothek war er inzwischen alleine, verschaffte sich einen Überblick, zog ab und an ein Buch heraus, um einige Zeilen darin zu lesen. Bis er schließlich auf ein Buch von Albert Paris Gütersloh stieß – was für ein Name! – mit dem er sich unvermittelt in einem Lesesessel wieder fand und die Zeit um sich herum vergaß. Plötzlich wurde sie Tür aufgerissen und gleich wieder zugeschlagen. Zwill blickte auf den Rücken eines wohl ziemlich aufgeregten jungen Mannes, denn seine Schultern hoben und senkten sich zu kräftigen Atemzügen. Zwill wollte sich räuspern, auf sich aufmerksam machen, aber noch wartete er, neugierig, wie der andere sich weiter verhalten würde. Der junge Mann ballte die Fäuste, hob einen Arm und holte aus. Da er jedoch kein Ziel vorfand, drehte er sich um und Zwill hüstelte in dem Moment. Erschrocken hielt der junge Mann inne.
„Was? Wieso sagen Sie denn nichts?“
„Ich habe gelesen.“
„Was? Ach so. Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören.“ Er machte einen Ansatz, den Raum zu verlassen.
„Warten Sie, ich wollte sowieso gehen. Hatte mich fest gelesen.“ Zwill stand auf, sah jetzt, dass der junge Mann Tränen in den Augen hatte. Zwill entschuldigte sich, ging an dem anderen vorbei, griff zur Türklinke.
„Er ist ein Schwein!“, sprach der andere.
Zwill hielt inne. „Sie sind wütend!“
„Das ist offensichtlich!“
Eine Zeit lang blickten sich beide ratlos an. Zwill spürte, dass das noch nicht alles war, vielleicht wollte sich da jemand aussprechen. Aber dazu war er nicht in der richtigen Verfassung, hätte selbst jemanden gebraucht. Er wollte gehen, aber da ging die Tür wieder auf. Diesmal stand eine der jungen Frauen da, blickte beide Männer abwechselnd an und fragte den jungen, ob alles in Ordnung sei.
„Ja, schon gut, wir unterhalten uns nur.“
Sie schloss die Tür.
„Bitte bleiben Sie noch einen Augenblick“, sagte der junge Mann zu Zwill.
Zwill lag es auf der Zunge nach dem ‚Warum‘ zu fragen. „Nun gut, meinetwegen, wenn ich Ihnen damit helfen kann.“ Er ging zurück in die Mitte des Raumes. „Eine außerordentliche Bibliothek, finden Sie nicht?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich bin zum ersten Mal hier.“
„Aber sie sagten doch, er sei ein Schwein.“
„Ach, Sie meinen … Nein, ich kenne Schroth gar nicht, außerdem bin ich nicht einer von seiner Sorte. Wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Ich kann es mir denken.“