Aber nicht gleich aufessen!

„Mögen die Schatten der Vergangenheit entschwinden und die Wesen der Zukunft sich mit ihren Schwingen erheben. Du kannst mich unter 33 44 65 erreichen.“
Mehr war es nicht, aber er wusste, dass nur sie es sein konnte. Er rief zurück und hinterließ folgende Botschaft: „ … erheben über die Täler von Ungewissheit und Not, Verzweiflung und Wirrnis bis am Horizont die weiten und satten Ebenen der Erkenntnis erscheinen. Jeanne, es ist in den letzten Jahren einiges geschehen. Das würde ich dir gerne in Ruhe erzählen. Können wir uns treffen?“
Die blumige, altmodische Sprache stammte aus der Zeit als er mit dem Schreiben begonnen hatte und Jeanne sich über ihn als künftigen Verfasser schwülstiger Romane lustig gemacht hatte. Ganze Abende verbrachten sie mit der Verulkung seiner ersten Entwürfe, bis sie schließlich eines Tages einfach verschwand, nichts als einen Zettel mit einer Nachricht hinterlassend: „Du bist jetzt soweit. Du brauchst mich nicht mehr.“
Das war ihre letzte Botschaft gewesen. Fünf Jahre her. Sie hatte recht damit, dass er sie damals nicht mehr brauchte, um schreiben zu können. Aber es gab noch etwas anderes im Leben als Arbeit und dafür vermisste er sie immer noch.
 

Zwill fügte noch etliche Begebenheiten in seinen Entwurf ein, u.a einen Empfang, den der Verlag zu Ehren des Autors gab. Mit dem Wehmutstropfen, dass er Jeanne nicht daran teilnehmen lassen konnte, da er noch zu wenig über ihr Vorbild wusste. Natürlich hätte er das Kapitel auch später schreiben können, aber er wollte seinen Protagonisten noch etwas leiden lassen. Schließlich ging es in seiner Geschichte auch nicht ausschließlich um eine alte Liebe. Aber wie sich das Leben des Autors entwickeln würde, hing dennoch davon ab, was mit Jeanne bzw. Debra geschehen würde. Er hatte Debra bereits einmal angerufen, aber sie war sehr beschäftigt und versprach zurückzurufen, sobald sie Zeit habe. Er wartete also genauso auf den Anruf wie es seine Figur tat. Zwischendurch malte er sich weitere Eigenschaften Debras aus. Obwohl er sich der Gefahr bewusst war, dabei Vorurteile zu schaffen, die seine Wahrnehmung beeinflussen würden.

Nach drei Tagen kam er nicht mehr weiter und er ging ins Redcliff. Vergeblich blickte er sich nach Debra um. Nach einer halben Stunde setzte sich eine junge Frau um die Mitte zwanzig unaufgefordert neben ihn.
„Hallo, ich bin Nicole. Debra hat mir von dir erzählt. Du schreibst Bücher?“
„Ja, das stimmt. Wie geht es Debra?“
„Wohl nicht so gut, Beziehungsstress und dann der Nachdreh.“
„Verstehe, grüß sie trotzdem von mir.“
„Mach ich. Ich finde es gut, wenn jemand noch richtige Literatur verfasst. Was diese angeblichen Drehbuchautoren abliefern, zeugt oft davon, dass sie noch nie ein Buch gelesen haben.“
„Aber sie verdienen besser.“
„Mag sein. Aber so ein richtiger Autor ist doch was anderes.“
Zwill wurde diese Anhimmelei langsam peinlich. „Hast du denn was von mir gelesen?“
Sie zog seinen letzten – und bisher einzigen – Roman „Katzenhund“ aus der Tasche. „Gestern Abend habe ich angefangen. Ich bin schon auf Seite 100.“
„Da müssten sie gerade das Boot gechartert haben.“
„Das ist unheimlich toll beschrieben. Ich meine man spürt richtig, wie sich da was zusammenbraut.“
„Es wird einen Sturm geben.“
„Als Metapher meinst du? Habe ich mir gedacht, das ist so natürlich, so zwingend geschrieben. Hast du den Film gesehen?“
„Welchen Film?“
„Der Sturm!“
„Nein, habe ich was verpasst?“
„Man kann das natürlich schlecht vergleichen, aber die Spannung ist bei dir ähnlich stark – wirklich.“
„Du redest in der Tat über ‚Katzenhund‘?
„Ja schon, warum fragst du?“

Zwill war versucht diese Ignorantin loszuwerden, wie konnte man sein Buch mit einem Film vergleichen? Aber schließlich konnte er noch etwas von ihr erfahren.
„Kennst du Debra eigentlich gut?“
„Debra?“ Sie zögerte diesmal als sei es ihr unangenehm jetzt an sie erinnert zu werden.
„Was heißt ‚gut‘? Wir arbeiten gelegentlich zusammen.“
„Was machst du eigentlich bei der Produktion?“
„Welche meinst du?“
„Na, der Nachdreh.“
„Nein, da bin ich nicht dabei. Ich bin bei uns sozusagen für die Vorauswahl der eingehenden Stoffe zuständig. Wie gesagt, es ist viel Mist dabei.“
„Hm.“
„Wir haben jetzt jedoch eine interessante Story, die Figuren sind noch ein wenig blass. Wenn ich mir dagegen ‚Katzenhund‘ anschaue.“
„Die ersten hundert Seiten.“
„Trotzdem, ich meine …“
„Sag mal, wie ist das eigentlich bei einem Drehbuch? Weiß man da schon, welcher Schauspieler das machen wird?“
„Manche Autoren wissen schon genau, wen sie sich vorstellen, sonst hilft ihnen die Casting-Abteilung. Du hast doch nach Debra gefragt?“
„Ja!“

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