Aber nicht gleich aufessen!

Er musste dringend pinkeln und blickte sich nach einem geeigneten Ort dazu um. Er stand gerade vor einer großen Plakattafel, auf der ein berühmtes Fotomodell Dessous präsentierte. Das war schon ziemlich unverschämt. Diese äußerst begehrenswerte Frau tat so, als ob sie für jedermann zu haben wäre. Und dass ausgerechnet ihm gegenüber, der zurzeit selbstverschuldet in Klausur lebte. Er bugsierte seinen Schwengel aus der Hose und versuchte so hoch wie möglich auf die Plakatschönheit zu pinkeln. Gemeinerweise ließ sich das die Schönheit nicht gefallen, sondern gab ordentlich zurück. Zu spät änderte er den Winkel des Strahls und konnte nicht verhindern, dass er sich nass machte. Vorbei die Chance noch einmal im „Deux Pont “ einzukehren, um ein wenig Erlösung bei einer der dort verkehrenden vereinsamten Schönheiten zu suchen.

Am nächsten Morgen packte Zwill seine befleckte Hose zu einem inzwischen immensen Berg an Schmutzwäsche und stopfte einen Teil in die Waschmaschine. Gähnende Leere im Kleiderschrank brachte ihn auf die Idee, sich in der Stadt nach neuer Kleidung umzuschauen. Auch wollte er sich dafür belohnen, dass er endlich nach viel zu langer Pause wieder mit dem Schreiben begonnen hatte, obgleich er auch noch ein wenig unsicher war, ob es eine gute Wahl war, über einen erfolgreichen Autor zu schreiben. Da aber nicht der Erfolg das Thema war, sondern die Entfremdung des Schreibenden von der Wirklichkeit, hielt er seine Entscheidung nach wie vor für richtig. Ein kommerziell erfolgreicher Autor schien ihm dem wahren Leben noch entrückter als ein am Hungertuch darbender.
Ein wenig graute ihm vor dem Einkauf Wie sollte er die richtigen Größen oder Farbkombinationen ohne weiblichen Rat finden? Aber er machte sich gar nicht schlecht dabei, wie er selbst fand, anscheinend hatte er sich bis jetzt nur aus Bequemlichkeit kein eigenes Urteil gebildet. Immer im Glauben, dass das der Frauen – in dieser Hinsicht – ohnehin seinem überlegen war. Schließlich hatte er es stolz zu drei riesigen Tüten mit Hosen, Hemden und Pullis gebracht. Die deponierte er an einem Stand des Kaufhauses, um sich dann unbeschwert in der Computer-Abteilung umzusehen. Vor einem Zubehörregal für drahtlose Spielereien bückte er sich zum untersten Fach und las die Beschreibung auf der Packung.
„Kennen Sie sich damit aus?“
Er blickte hoch und erkannte die Dunkelhaarige von gestern Abend. Er grinste wie jemand, der beim Apfeldiebstahl erwischt worden war. „So einigermaßen. Was suchen Sie denn?“
„Ach Sie sind es. Haben wir uns nicht gestern Abend im Redcliff gesehen?“
Zwill war klar, dass sie damit meinte, dass er sie ständig angestarrt hatte. „Aber ja. Sie gehörten doch zu dem Filmteam, das gefeiert hat.“
„Das war vielleicht eine verrückte Produktion, sag ich Ihnen. Die werden jede Menge Nachdrehs haben.“
„Und werden Sie wieder dabei sein?“
„Das … Wieso fragen Sie das? Wissen Sie denn, was ich dabei zu tun hatte?“
Zwill gab zu, dass er sich nach ihr erkundigt hatte. Aber das schien ihr gar nichts auszumachen. Sie sprachen auch nicht lange davon und sie machte ihn ungezwungen zu ihrem Fachberater in Computerfragen. Manchmal stellte er sich dümmer als er war, um sie zu weiteren Nachfragen zu bewegen.
Dann hatten sie schließlich alles zusammen, was ihr zu ihrem Computerglück fehlte und gingen Richtung Kasse. Inzwischen duzten sie sich schon, wie das bei Kneipenbekanntschaften so üblich ist. Kurz vor der Kasse blieb sie stehen.
„Jetzt haben wir so viel für mich gekauft und du hast gar nichts.“
„Ich wollte mich ohnehin nur informieren.“
„Nein, du musst auch etwas kaufen.“
„Na gut, vielleicht einige CD-Rohlinge, die kann man immer gebrauchen.“
„Die bezahl ich dir natürlich.“
Zwill kam mit den Rohlingen zurück und präsentierte sie demonstrativ.
„Aber nicht gleich aufessen!“, sagte sie mit gespielter ernsthafter Miene.
Zwill schaute sie ungläubig an, strahlte dann aufgrund ihres goldigen Humors und biss zum Spaß in die Packung.

Beschwingt, wie seit langem nicht mehr, trat Zwill den Heimweg an. Achtlos warf er seine Tüten auf das Sofa, kochte einen Kaffee und machte sich sofort an die Arbeit. Er musste unbedingt den Schwung ausnutzen, den Debra bei ihm hinterlassen hatte. Sie hatten noch ein Glas zusammen getrunken und er konnte daher noch mehr von ihrer ungewöhnlichen Art erleben, die er als eine seltene Mischung aus Intelligenz und Leichtigkeit empfand. Wie er am Vorabend schon vermutete, hob sie sich damit wohltuend von Vielen ihrer Branche ab, die Überheblichkeit mit Fähigkeit gleichsetzten. Aber warum sie sich so menschlich gab oder war, erschloss sich ihm noch nicht. Jedenfalls dachte er sofort daran, sie zum Vorbild der Protagonistin seines neuen Werks zu machen. Er hatte bislang nur gewusst, dass von der Frau, die er beschrieb, eine Faszination ausgehen sollte, ohne die in Männerphantasien allseits beliebtes Klischee einer coolen Schönheit zu bedienen. Bis dahin noch keine hinreichenden Kriterien, wie er selbst festgestellt hatte. Und jetzt präsentierte ihm die Wirklichkeit genau das, was er suchte. Was er bis jetzt über Debra erfahren hatte, reichte jedoch nur für eine grobe Skizze. Er war sich bewusst, dass er sie – wie ein Maler sein Modell – noch genauer studieren musste, um sie wirklich zu perfektionieren.

Schon als Merten nicht mehr damit rechnete, erreichte ihn der lang ersehnte Anruf bzw. die Nachricht auf seinem Anrufbeantworter.

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